Menschen mit Behinderungen haben kein Sparpotenzial
Angehörige gründen Lobby und rufen zur Unterstützung und Beteiligung auf
Hohenems, 5. Mai 2025 – Die aktuellen Kürzungen bei den Vorarlberger Sozialausgaben gaben den Ausschlag: Vier Mütter von Kindern mit Behinderungen gründeten am heutigen Tag der Inklusion die „Lobby für Familien mit Behinderungen“. Sie fordern die sofortige Rücknahme der Sparmaßnahmen, eine rasche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und werden sich künftig als Partner auf Augenhöhe „einmischen“.
6 bis 8 Prozent des geschätzten Bedarfs sollen Träger aus dem Bereich „Chancengleichheit“ des Sozialfonds sparen, so die Vorgabe des Landes Vorarlberg. „Viele Familien mit einem Familienmitglied mit Behinderungen fühlen sich als Einzelkämpfer und von den Verantwortlichen allein gelassen. Der Ruf nach einer Lobby wurde im Zuge der Einsparungen immer lauter“, begründete Martina Natter die Gründung der „Lobby für Familien mit Behinderungen“. Die Mutter von 3 Söhnen, einer mit Down-Syndrom, ist Obfrau der AG Down-Syndrom und Sprecherin des Netzwerks Eltern und Inklusion (NELI).
Tag und Ort waren symbolträchtig: Der 5. Mai ist ursprünglich der europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und wird heute als Tag der Inklusion begangen. Das Literaturhaus Vorarlberg in der Hohenemser Villa Franziska und Iwan Rosenthal ist ein Ort, der sich in seinen historischen Mauern darum bemüht, Barrierefreiheit auf vielen Ebenen in die Praxis umzusetzen, um sich für alle Menschen zu öffnen.
Anwesend waren Angehörige und Menschen mit Behinderungen, die in der Caritas, der Lebenshilfe, beim IFS, im AKS, im Füranand und im Schulheim Mäder von den Einsparungen unmittelbar betroffen sind.
Recht auf Unterstützung
Nicole Klocker-Manser, Obfrau von Integration Vorarlberg, Sprecherin von NELI und Mutter, verwies auf die vor 17 Jahren von Österreich ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. „Seit Jahren befinden wir uns bei der Umsetzung im Stillstand oder im Rückschritt, die in den aktuellen Sparmaßnahmen gipfeln. Dass Vorarlberg zudem 2021 das inklusive Leitbild einstimmig im Landtag beschlossen hat und 2035 das chancenreichste Land für alle hier lebenden Kinder sein will, ist scheinheilig.“
Demgemäß fordert die Lobby einen transparenten Maßnahmen- und Finanzierungsplan für personen- und sozialraumorientierte Lebensstrukturen, die ein selbstbestimmtes Leben und Inklusion in der Gemeinschaft laut Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention ermöglichen.
„Inklusion ist kein Sparpaket, sondern ein Projekt, das über Fördertöpfe und Abteilungen hinweg und über die ganze Lebensspanne gerechnet werden muss. Inklusion rentiert sich langfristig immer! Denn echte Inklusion heißt, ein gutes Leben für dich und mich und alle“, betonte Klocker-Manser.
Expertise ernst nehmen
Renate Vogel, Pflegemutter einer 50-jährigen Frau mit Autismus und Mehrfachbehinderung, Autismustherapeutin und Gründungsmitglied der Autistenhilfe Vorarlberg, betonte die Bedeutung von Fachlichkeit: „Familien suchen Fachleute auf, in der Hoffnung, Erklärungen und Hilfestellungen in der jeweiligen Situation und für eine spezifische Behinderung zu erhalten“, sagt sie. Vielfach erfolge jedoch keine adäquate Unterstützung. „Es braucht dringend professionelle Fachlichkeit, die den Alltag unterstützt, sinnvoll begleitet und erleichtert, über den Tellerrand schaut und sich an internationalen Standards und anerkannten Methoden orientiert.“
Der Austausch zwischen Familien und Profis auf dem Gebiet der Behindertenunterstützung müsse auf Augenhöhe geschehen und gleichwertig sein. Als erfolgreiche Eigeninitiative hat die Autistenhilfe Vorarlberg – ein ehrenamtlich arbeitender Elternverein – in Eigenregie einen 3‑semestrigen Lehrgang ins Leben gerufen, der wissenschaftlich begleitet und evaluiert wird.
Armutsfalle und Erschöpfung
Adriane Feurstein, Ärztin, Mutter einer 38-jährigen Tochter mit hohem Unterstützungsbedarf und Angehörigenvertreterin in der Lebenshilfe Vorarlberg, unterstrich die Betroffenheit im Umfeld von Menschen mit Behinderungen: „Deren Eltern übernehmen Verantwortung für die gesamte Familie, einschließlich Geschwistern und Großeltern. Alleinerziehende Mütter haben oft Angst vor Armut im Pensionsalter und sind gesundheitlich und psychisch erschöpft. Sowohl junge als auch alte Eltern kommen an ihre Belastungsgrenzen.“ Tatsächlich treffen die Sparmaßnahmen die Falschen: Ein System, das am Anschlag ist, nur mit unbezahlter Care-Arbeit einigermaßen funktioniert und intransparent mit „Einzelfalllösungen“ auf Unzulänglichkeiten reagiert. Anstatt Sparen wäre Fördern der physischen und psychischen Gesundheit Angehöriger nötig, was sich auch volkswirtschaftlich auszahlen würde.
Angesichts der unhaltbaren Zustände haben die 4 Proponentinnen der „Lobby für Familien mit Behinderungen“ eine Online-Petition auf der Plattform mein.aufstehn.at eingerichtet und laden zur Unterstützung ein: „Nur wenn es uns gelingt, möglichst viele Betroffene zu versammeln werden uns Politik und Institutionen als Gesprächspartnerinnen auf Augenhöhe erst nehmen“, betonte Martina Natter abschließend.
Link zur Online-Petition: https://mein.aufstehn.at/p/lobby
Rückfragehinweis:
Martina Natter, +43 650 8622154, lobbyfamilienmitbehinderungen@gmail.com
Werner F. Sommer, Pzwei. Pressearbeit, +43 699 1025 4816, werner.sommer@pzwei.at